Wir haben nicht das Bedürfnis, an der Klimakrise zu scheitern
Dominik Philipp ist sich sicher: Wir handeln automatisch nachhaltig, wenn wir auf unsere Bedürfnisse eingehen. Anja Koller von competitionline sprach mit ihm über die Herausforderung, heute gute Architektur für morgen zu gestalten, darüber, wie wir konstruktions- und nutzungsflexibel bauen und warum kein anderes Material mit der Präzision von Holz mithalten kann.
Ein Interview über update-fähige Gebäude, Vernetzung und die Flexibilität von Holz von Anja Koller, Competitionline
Anja Koller: Herr Philipp, es gibt von Ihnen einen TED-Talk, in dem Sie davon sprechen, dass es beim Thema Nachhaltigkeit nicht um Verzicht geht. Worum geht es Ihrer Meinung nach?
Dominik Philipp: Die Frage, die bei jeder Handlung, die wir tätigen, am Anfang steht, ist: Warum tun wir das, was wir tun? Die Antwort darauf ist einfach: weil wir Bedürfnisse haben. Menschen handeln zu 80 Prozent aus emotionalen Gründen heraus. Und versuchen dann, ihr Handeln rational zu begründen. Weil wir so emotional handeln, fällt es uns leichter, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, als uns dazu zu motivieren, Probleme zu lösen oder auf Dinge zu verzichten. Wir sollten daher aus dem Problemlösungs- oder Verzichtsmodus herauskommen, wenn wir über Nachhaltigkeit in der Baubranche sprechen. Wir handeln automatisch nachhaltig, wenn wir auf unsere Bedürfnisse eingehen. Denn wir haben nicht das Bedürfnis, an der Klimakrise zu scheitern.
AK: Oft hört man den Satz, dass Architekt:innen heute schon wissen müssen, was die Bedürfnisse von morgen sind. Wie weiß man, was Nutzer:innen eines Gebäudes, eines gestalteten Freiraums zukünftig benötigen?
DP: Nehmen wir das Beispiel des Münchner Hauptbahnhofs. Der Wettbewerb wurde 2006 entschieden, aktuell wird gebaut, und wahrscheinlich wird alles erst 2030 oder später fertig. Damals, als das Büro Auer Weber den Entwurf erstellte, entwarf es ein Gebäude, das irgendwann in der Zukunft aktuell, zeitgemäß sein muss. Das ist eine große Herausforderung. Wir wissen nicht, was die Bedürfnisse von morgen sind. Was wir aber wissen, ist, dass sich Bedürfnisse im Laufe der Zeit verändern. Das heißt: Wir müssen Gebäude so aufsetzen, dass sie sich an die verändernden Bedürfnisse anpassen, dass sie „update-fähig“ sind, quasi wie die Apps auf einem Smart-Phone.
"Nachhaltig bauen hat nichts mit
Verzicht zu tun, sondern mit der
Befriedigung unserer Bedürfnisse."
Dominik Philipp
AK: Wie machen wir das?
DP: Konkret bedeutet das, dass wir Gebäude mit zweifacher Flexibilität ausstatten müssen: einmal mit der Nutzungsflexibilität, die beinhaltet, dass wir Gebäude so bauen, dass man sie mit unterschiedlichen Nutzungen belegen kann. Wenn die Nutzungsflexibilität erschöpft ist, braucht es zweitens die Konstruktionsflexibilität, heißt, ich muss das Gebäude in seine Bestandteile zerlegen können. Wörter wie Abfall oder Müll kommen in diesem Szenario nicht mehr vor. Denn die gebaute Umwelt ist mein Materiallager, aus dem ich mich bedienen kann.
Wir von Dietrich Untertrifaller beschäftigen uns intensiv mit der Digitalisierung im Holzbau. Wir wollen Gebäude bauen, die anpassungsfähig sind und aus einzelnen Komponenten zusammengesetzt werden. Einzelkomponenten, die demontiert und wieder zu neuen, veränderten Objekten nach unseren Bedürfnissen zusammengefügt werden können. Aber wenn wir mit Einzelkomponenten und nach dem Ersatzteilprinzip kreislauffähig werden wollen, dann muss das realisierte Gebäude zu 100 Prozent mit dem geplanten Gebäude im Modell übereinstimmen.
AK: Das ist noch nicht der Fall…
DP: Wir oder vielmehr die Baubranche insgesamt sind auf dem Weg dahin. Das Gebäude im Betrieb verändert sich im Laufe der Jahre; irgendwann ist es sanierungsbedürftig, und durch die Veränderungen stimmt es nicht mehr mit seinem digitalen Zwilling überein. Es gibt einen Bruch in der Digitalisierung. Man muss das Gebäude im Betrieb neu vermessen, um den digitalen Zwilling upzudaten. In Zukunft muss die Verbindung zwischen dem digitalen und dem gebauten Gebäude bestehen bleiben, beide müssen synchron sein und miteinander kommunizieren.
Wenn wir lebenszyklustauglich mit einer besseren Ökobilanz und nutzungs- sowie konstruktionsflexibel planen wollen, müssen wir genau so bauen. Das Gute ist: Die Zeit der Freiwilligkeit ist vorbei. Die Politik gibt neue Rahmenbedingungen vor. Ursula von der Leyens Großprojekt „European Green Deal" ist genau der Hebel, den es braucht, um Wirtschaft und Gesellschaft neu auszurichten. EU-Taxonomie, ESG-Richtlinien – all das bringt uns Planende und Bauschaffende dazu, dass wir anders planen und bauen werden.
AK: Und damit also…
DP: … vernetzter. Es ist schön und gut, wenn ich von 100 Häusern, die ich gebaut habe, weiß, welches Material ich verwendet habe. Wenn es sonst niemand weiß, dann bringt das gar nichts. Digitalisierung und Vernetzung sind Voraussetzungen dafür, dass wir ressourcenschonend, demontierbar, im Kreislauf und auch bedürfnisorientiert bauen. Firmen wie Madaster und Concular, die sich mit der Katalogisierung und Digitalisierung von Materialien beschäftigen, arbeiten schon genau in diese Richtung. Wenn wir unsere Gebäude im Computer so konzipieren, dass alle Daten verzeichnet, alle Bauteile katalogisiert sind – und das in einer Präzision, die der Ausführung entspricht –, dann können wir in 20 Jahren mithilfe dieser Datenbank sämtliche Bauteile, die irgendwo verbaut sind, abrufen und im Fall des Falls an anderer Stelle zur Verfügung stellen. Wenn dieses Kreislaufdenken mit einem Gebäude funktioniert, dann funktioniert das auch mit einem Quartier und auch mit einer ganzen Stadt.
Das Thema der Vernetzung greift auch bei der Energie. Wir können uns vernetzen und Energiegemeinschaften bilden. Wenn ein Haus mit einer Photovoltaikanlage bestückt ist, wird diese vielleicht nicht ausreichen, um das ganze Haus mit Energie zu versorgen. Vielleicht schaffen das aber fünf Häuser in Gemeinschaft. Wir können Quartiere so ausstatten, dass sie gänzlich oder zumindest Teile davon autark funktionieren. Viele Architekt:innen planen allerdings immer noch nur bis zur Hauskante. Wir müssen den Blickwinkel öffnen.
"In Zukunft muss die Verbindung zwischen
dem digitalen und dem gebauten Gebäude
bestehen bleiben, beide müssen synchron
sein und miteinander kommunizieren."
Dominik Philipp
AK: Dabei gehört das vernetzte, kooperative Arbeiten doch eigentlich zur DNA von Architekt:innen.
DP: Das stimmt. Aktuell ist es aber dennoch so, dass die Planer:innen auf der anderen Straßenseite über ein Jahr an einem Umbau arbeiten und niemandem etwas davon erzählen. Und ich mache genau dasselbe. Das Team gegenüber schreibt aus, sucht sich passende Firmen. Dasselbe mache ich auch. Wir beide brauchen ein Gerüst, brauchen einen Kran. Bis jetzt passiert das alles getrennt, weil wir nichts von den Aktivitäten und Anforderungen der anderen wissen. Wir beauftragen zwei Firmen, die transportieren zwei Gerüste mit zwei LKWs. Wenn beide Parteien sich aber von Anfang an vernetzen, ergibt das zusammen ein größeres Leistungspaket, dann würden wir sofort Ressourcen sparen. Wir bräuchten nur einen Gerüstbauer, der nur einmal mit dem Lkw in die Stadt fährt, um bei mir ein Gerüst aufzustellen und bei meinem Nachbarn auf der anderen Straßenseite. Im besten Fall würden wir uns auch zeitlich versetzt ein Gerüst teilen.
AK: Wir würden die Mobilität reduzieren und, wie Sie sagen, Ressourcen sparen.
DP: Nicht nur das. Das Ganze hätte auch enorme wirtschaftliche Vorteile. Wir hätten größere Leistungspakete, bessere Angebote. Die Firmen wären besser ausgelastet, könnten effizienter planen.
AK: Die ökonomischen Vorteile liegen auf der Hand. Was verhindert, dass wir hier schneller ins Handeln kommen?
DP: Unsere Erfahrung. Wir haben jahrelang gelernt, so zu arbeiten, wie wir es jetzt tun. Auf den Baustellen agieren wir heute noch genauso wie zur aktiven Zeit meiner Eltern, die auch Architekten waren, vor 30, 40 Jahren. Dieses angelernte Verhalten aufzubrechen, das ist die große Herausforderung, aber auch die Chance der jungen Architekt:innen. Denn sie sind es allen voran, die unbequeme Fragen stellen, auf die wir oftmals keine Antwort haben. Oder wir verstecken uns hinter dem Satz „So haben wir es schon immer gemacht".
AK: Eine Antwort könnte der moderne Holzbau sein. Das Büro Dietrich Untertrifaller versteht sich als Pionier in diesem Bereich. Ein aktuelles Projekt ist der Campus der TU München im Olympiapark. In Ihrem TED-Talk argumentieren Sie, dass der moderne Holzbau für flexibles, bedürfnisorientiertes, vernetztes und kreislauffähiges Bauen prädestiniert sei. Warum?
DP: Holz ist nachhaltig, aber nicht das Allheilmittel. Dass Holz nachwächst, ist klar, auch, dass es mit einem gewissen Alter ein hervorragender CO2-Speicher ist. Was das Material aber vor allem auszeichnet, ist seine Präzision. Man kann mit ihm im Millimeterbereich arbeiten. Diese Präzision ist mit Beton nicht zu haben. Auch wenn wir von Flexibilität, die wir zukünftig brauchen, wenn wir von Trenn- und Demontierbarkeit sprechen, dann kommen wir am Holzbau nicht vorbei.
Ein weiterer Vorteil ist sein hoher Vorfertigungsgrad. Die Arbeit des Holzbauers oder der Holzbauerin verschiebt sich örtlich gesehen ins Werk und fachlich gesehen in Richtung Digitalisierung. Aus dem BIM-Modell im Computer heraus steuert er oder sie direkt eine CNC-Fräse und schneidet die Bauteile. Man plant das Projekt also im Büro, baut im Werk und ist nur ein paar Tage auf der Baustelle, auf der man das Ganze zusammensteckt. Doch trotz der Potenziale von Holz gibt es das Problem der Verfügbarkeit.
AK: Verfügbarkeit und Nachfrage halten sich nicht die Waage.
DP: Genau, das Problem ist die steigende Nachfrage, mit der die Holzbauunternehmen konfrontiert sind. In Österreich haben 85 Prozent der ausführenden Holzbauunternehmen weniger als neun Mitarbeitende. Nur 0,7 Prozent der Firmen haben mehr als 49 Mitarbeitende. Die Zahlen für Deutschland sind ähnlich. Die Nachfrage nach Holz steigt immer weiter, und die Holzbauer:innen können ihre oft sehr kleinen Strukturen nicht so schnell anpassen. Daher weicht man dann auf große, internationale Unternehmen aus. Wenn man Holzmodule jedoch quer über den Kontinent schifft, haben Sie am Ende vielleicht mit Holz gebaut, aber alles andere als nachhaltig gehandelt.
Trotz der steigenden Beliebtheit ist der Holzbau ein regionales Thema. Nachhaltiges Bauen ist per se kontextuell. Man muss sich mit dem Handwerk vor Ort auseinandersetzen, sich fragen, in welcher Art und Weise, mit welchen Materialien und Techniken man in einer bestimmten Region bauen kann. Bevor wir als Architekt:innen einen Strich zeichnen, müssen wir uns daher intensiv mit dem Kontext beschäftigen, welche Anforderungen und Bedürfnisse hinter einem Gebäude stehen. Und hier komme ich wieder zu meiner Ausgangsthese zurück: Wenn wir auf Bedürfnisse eingehen, handeln wir automatisch nachhaltig, wissen wir, mit welchem Material und wie wir am besten bauen.
AK: Herr Philipp, vielen Dank für das Gespräch!
Dieser Artikel erschien erstmals am 22. Februar 2023 auf competitionline.com. Das Interview mit Dominik Philipp führte Anja Koller, Redakteurin Nachhaltiges Planen und Bauen.